Deutschland gegen den Euro

BERLIN – Normalerweise werden Personen oder Organisationen vor Gericht gebracht, wenn irgendetwas schiefgeht und es zum Streit darüber kommt, wer für den Schaden haftet. Daher war die Anhörung vor dem Bundesverfassungsgericht vom 11.-12. Juni zur Prüfung der Rechtmäßigkeit des Programms der so genannten „Outright Monetary Transactions“ (OMT) der Europäischen Zentralbank bemerkenswert. Hier geht der Streit um die erfolgreichste geldpolitische Maßnahme der letzten Jahrzehnte – und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit.

Die Ankündigung des OMT-Programms im Juli 2012 senkte die Zinssätze für Unternehmen und Regierungen gleichermaßen und führte zum Rückfluss dringend benötigten privaten Kapitals in die Krisenländer. Sie half damit, die Auswirkungen der tiefen Rezession auf Europas Peripherie abzumildern. Sie brachte zudem jenen seltensten aller Aktivposten zurück: das Vertrauen in die Überlebensfähigkeit der Wirtschaft der Eurozone und ihrer Währung, des Euro.

Und was das Beste war: Keiner dieser Erfolge hat bisher einen einzigen Euro gekostet. Es war nichts weiter erforderlich als eine bloße Aussage von EZB-Präsident Mario Draghi und seinem EZB-Rat, dass sie tun würden, „was immer nötig ist“, um Staatsanleihen der Euroländer aufzukaufen, sofern diese Länder strenge fiskalische Vorgaben einhielten. Kein Land hat sich bisher gemeldet.

Doch obwohl sein Erfolg durch diese positiven Auswirkungen auf die Finanzmärkte belegt ist, ist das OMT-Programm aufseiten der deutschen Öffentlichkeit, politischen Parteien und Ökonomen schwer unter Beschuss geraten. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass nur ein Drittel der Deutschen das Programm gut finden, während eine Mehrheit es ablehnt. Und nun ist das Bundesverfassungsgericht angerufen worden, um es für ungesetzlich zu erklären.

Warum würde irgendjemand – insbesondere ein Europäer – einem Programm den Garaus machen wollen, dass bisher dazu beigetragen hat, die gemeinsame Währung zu retten?

Die deutschen Gegner des OMT-Programms argumentieren, dass es verfassungswidrig sei, weil es keine geldpolitische, sondern eine fiskalpolitische Maßnahme sei, die darauf abziele, die zahlungsunfähigen, lethargischen Regierungen der Eurozone zu finanzieren. Sie argumentieren, dass es nicht Aufgabe der EZB sei, den Euro zu retten oder zu verhindern, dass Länder aus der Währungsunion ausscheiden.

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Diese Beschwerden sind umso verwunderlicher angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Hauptprofiteur der OMT-Ankündigung ist: Seine unmittelbaren Finanzrisiken in Form von Salden im Target2-System der Eurozone und des Umfangs der EZB-Bilanz haben sich verringert, trotz der Rezession in der Eurozone.

Angesichts dieser Vorteile scheint es masochistisch, dass sich die Deutschen der EZB-Strategie widersetzen. Darum noch einmal: Warum gibt es so viel Widerstand dagegen in Deutschland?

Ein Teil der Antwort liegt in Deutschlands starker ordnungspolitischer Tradition begründet, die fast immer festen Regeln den Vorrang vor Ermessensentscheidungen einräumt. Erfolg kann Versagen bedeuten, wenn er mit fragwürdigen Instrumenten erreicht wird.

Ein zweiter Grund ist, dass die Deutschen es satt haben, als Europas Sündenbock herzuhalten und die Schuld für die Probleme ihrer Nachbarn zugeschoben zu bekommen, während man sie zugleich auffordert, Risiken einzugehen und großzügige Finanztransfers zu leisten. Tatsächlich sitzt das Misstrauen gegenüber Europa und seinen Institutionen bei Teilen der geistigen Elite Deutschlands inzwischen so tief, dass jede neue europapolitische Maßnahme in Verdacht gerät, eine Verschwörung zu sein, um an das deutsche Geld zu kommen.

Diese Sicht gewinnt zunehmend auch politisch an Boden. Viel Zulauf erhält derzeit die Alternative für Deutschland, eine neue, explizit gegen den Euro gerichtete Partei. Zudem will eine zunehmende Zahl der Deutschen offen oder heimlich die D-Mark zurück.

Das Problem ist, dass sich dieser Wunsch tatsächlich erfüllen könnte. Sollte das Verfassungsgericht dem OMT-Programm Schranken auferlegen, wären die Folgen düster, denn dies würde der Garantie der EZB, zu tun, „was immer nötig ist“, die Wirkung nehmen.

Die Finanzmärkte würden unzweifelhaft schnell reagieren und die Befürchtungen des vergangenen Sommers wieder aufleben lassen. Ohne eine politische Institution, die imstande ist, die Regie zu übernehmen, würden Länder wie Italien und Spanien an den Rand einer panikbedingten Zahlungsunfähigkeit zurückkehren. Das Ergebnis wäre eine tiefe Depression in Europa, die fast mit Sicherheit auch die deutsche Volkswirtschaft in ihren Sog ziehen und den europäischen Integrationsprozess umkehren würde.

Tatsächlich ist es unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht das OMT-Programm verbietet. Aber es könnte versucht sein, der EZB gewisse Beschränkungen aufzuerlegen, und so Europa tiefer in die Krise schicken. Aber selbst wenn das Gericht von derartigen Beschränkungen absieht, bleibt das grundlegende Problem: die wachsende Aversion der Deutschen gegenüber allem Europäischen.

Es gibt nur einen vernünftigen Weg voran. Deutschlands europäische Partner, insbesondere Frankreich, müssen Deutschland überreden, wieder stärker auf Europa zuzugehen und Verantwortung für die europäische Integration zu übernehmen. Der Widerstand der deutschen Führung gegen jeden Vorschlag institutioneller Reform mag derzeit, im Vorfeld der Bundestagswahl im September, entschuldbar sein. Doch wenn die neue Regierung ihr Amt antritt, wäre Deutschlands fortdauernde Weigerung, einen aktiven Ansatz zur Lösung der Probleme Europas zu verfolgen, absolut unverzeihlich.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/d6tfHcdde