David cameron WPA Pool/Pool

Großbritanniens Feind im Inneren

PRINCETON – Die Demokratie steht überall vor gravierenden Herausforderungen. In den Vereinigten Staaten steht man unter dem Eindruck des bizarrsten Präsidentenvorwahlkampfes seit Menschengedenken, im Rahmen dessen populistische Außenseiter etablierte Parteiapparate auszuhebeln drohen. Brasilien ist durch eine Verfassungskrise gelähmt. Die Europäer führen ihre Malaise auf ein Demokratiedefizit in der Europäischen Union zurück. Und in Großbritannien heizt die Vision von der wiedergewonnenen nationalen Souveränität die Kampagne für den EU-Austritt an.

Doch die Bestrebungen zur Wiederherstellung der „Macht des Volkes“ können leicht dazu führen, die Menschen gegeneinander aufzubringen. Das bevorstehende Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens ist ein typisches Beispiel dafür.

Die traditionellen Theoretiker der repräsentativen Demokratie stehen der direkten Demokratie zutiefst skeptisch gegenüber. Insbesondere Volksabstimmungen können ernsthafte Risiken mit sich bringen. Da komplexe Themen auf eine Entscheidung für oder gegen eine einzige Alternative reduziert werden, bekommt diese Entscheidung existenziellen Charakter – und wird zu einer potenziellen Quelle langfristiger tiefer Spaltung. Genau das passiert momentan in Großbritannien.

Doch in der britischen Kampagne gibt es kein Entrinnen vor der Komplexität; sie taucht einfach in der Ungewissheit darüber wieder auf, was eine Stimme für eines der beiden Lager eigentlich bedeuten könnte. Ein Verbleib in der EU könnte die Aufrechterhaltung eines „halb losgelösten“ Status und möglicherweise fortgesetzte Versuche bedeuten, weitere Ausnahmen und Ausstiegsoptionen aus gemeinschaftlichen Bestimmungen herauszuschlagen – diesen Kurs  scheint Premierminister David Cameron offenbar zu bevorzugen.  Allerdings könnte es auch heißen auf kollektiver Basis den Versuch zu wagen, ein breites Spektrum an Problemen in Angriff zu nehmen – von Sicherheit über Flüchtlinge bis zur Wirtschaft – die Großbritannien, wie die Austrittsgegner betonen, nicht alleine lösen kann. Das würde natürlich ein höheres Maß an Integration mit sich bringen.

Die Auswirkungen einer Stimme für den Austritt aus der EU („Brexit“) sind noch weniger klar. Was würde passieren, wenn Großbritannien den aufgrund des Vertrags von Lissabon verpflichtenden zweijährigen Austrittsprozess in Gang setzt? Könnte man im bestehenden Europäischen Wirtschaftsraum operieren (die so genannte norwegische Lösung)? Oder sollte man eine Reihe bilateraler Abkommen anstreben (die „Schweizer Lösung“)? Wie wäre es mit der Schaffung einer Freihandelszone mit Bosnien, der Ukraine und Albanien (das „albanische Modell) – wie von Camerons Justizminister Michael Gove angeregt? Soll sich Großbritannien in die Verhandlungen über die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft als eigenständiger Partner einbringen? Könnte Großbritannien vernünftigerweise auf raschen weltweiten Fortschritt hinsichtlich des Abbaus tarifärer Handelshemmnisse setzen?  

Die Ja-Nein-Abstimmung am 23. Juni wird also gar nichts lösen. Doch das Problem ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Die Verhandlungen über die Details der Beziehungen Großbritanniens zu Europa werden ungeachtet des Resultats des Referendums Jahre dauern. Die Überwindung der aufgrund der Abstimmung entstandenen Polarisierung wird allerdings noch längere Zeit in Anspruch nehmen. 

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In Ländern wie der Schweiz, wo echte direkte Demokratie praktiziert wird, führen derartige Abstimmungen nicht zu einer tiefen Polarisierung. Da Referenden sehr häufig durchgeführt werden, verschieben sich auch die siegreichen Koalitionen mit der Zeit und je nach Thema. Das heißt, keine Abstimmung hinterlässt tiefe Spaltungen der Wählerschaft.

Doch in repräsentativen Demokratien wie Großbritannien (und beinahe allen anderen Demokratien der Gegenwart) entscheiden sich die Wähler für Vertreter, damit diese komplexe Argumente gegeneinander abwägen und zu Kompromissen gelangen. Wird eine Entscheidung als von derart essenzieller Bedeutung empfunden, dass man sie den gewählten Vertretern nicht überlassen kann, kommt dies einer Kampfansage an das der gesamten politischen Ordnung zugrunde liegende Prinzip gleich. Überdies nimmt sie eine folgenschwere Qualität an und schürt heftige Gegnerschaft zwischen den Lagern. Tatsächlich erinnert die tiefe Polarisierung aufgrund des Brexit-Referendums an Episoden aus der Vergangenheit, die politische Allianzen erschütterten und alte Freundschaften zerbrechen ließen.

Die jüngste Analogie in Großbritannien besteht zur Suez-Krise des Jahres 1956, die sich zu einer Debatte über die Rolle Nachkriegs-Großbritanniens in der Welt und das Ausmaß seiner Abhängigkeit vom Wohlwollen Amerikas auswuchs. Im 19. Jahrhundert fand eine intensive Debatte über den Getreide-Freihandel statt, die in der Abschaffung der Getreidegesetze durch Premierminister Robert Peel gipfelte. Und fünfzig Jahre später ging ein Riss durch Frankreich, als Artillerie-Hauptmann Alfred Dreyfus wegen Landesverrates vor Gericht gestellt wurde.

In jeder dieser entscheidenden politischen Debatten dämonisierten sich die Lager gegenseitig und es wurde behauptet, der Gegner sei von Bösartigkeit und Ahnungslosigkeit getrieben. Das gleiche passiert auch heute in Großbritannien. 

Briten, die sich für einen Verbleib in der EU aussprechen, werden als Sklaven einer unverantwortlichen internationalen Technokraten-Bürokratie verspottet, als Landesverräter, die nur gewinnen können, indem sie das „Projekt Angst“ vom Stapel lassen. Unterdessen porträtieren die Befürworter einer fortgesetzten EU-Mitgliedschaft ihre Gegner als obskure, ungebildete, ahnungslose und engstirnige kleine Engländer, die nur aus Wut und Angst handeln. Mit anderen Worten: Jede Seite argumentiert, dass die andere unfähig sei, ihrer Emotionen mit rationalem Denken Herr zu werden.

In Wirklichkeit könnte man alle mit der EU in Zusammenhang stehenden Fragen die heute unter den Briten Angst und Wut verbreiten, von Fall zu Fall in Angriff nehmen. Als Reaktion auf Bedenken, wonach Migranten eine Belastung für das Bildungssystem, das Wohnungs- oder Transportwesen darstellen, könnte man sich für bessere Schulen, eine erhöhte Zahl von Baugenehmigungen oder steigende Infrastrukturinvestitionen stark machen. In allen diesen Bereichen sind gewählte Volksvertreter durchaus gut positioniert, um über die notwendigen Kompromisse zu entscheiden.

Indem man sich auf die Mechanismen der direkten Demokratie verlegt, untergräbt Großbritannien seine Fähigkeit, Herausforderungen in stabilitätsfördernder Weise zu begegnen. Eine Alles-oder-Nichts-Situation bringt die Bürger zunehmend dazu, Politik so zu betrachten, wie es dem deutschen Rechtsphilosophen (und Nazi-Parteimitglied) Carl Schmitt als unvermeidlich erschien: als Unterscheidung zwischen Freund und Feind -  zwischen jenen, für die man letztlich bereit ist, zu sterben und jenen, die man letztlich bereit wäre, zu töten. 

Derartige Gräben können nur durch (sehr viel) Zeit überbrückt werden. Sie können über jene Umstände hinaus weiterbestehen, die sie verursachten und es dauert häufig Generationen bis sie verblassen. So werden beispielsweise in den Mittelmeer-Ländern Europas heute noch immer heftige Debatten über die Macht der Katholischen Kirche geführt und im amerikanischen Süden trägt man nach wie vor die Last des Vermächtnisses der Sklaverei und des Bürgerkriegs. Das Ergebnis sind soziale Spannungen, politische Blockade und die Unfähigkeit zu Reform oder Modernisierung.  

Durch die Abhaltung eines Referendums hat Großbritannien einen tiefgreifenden und grundlegenden Konflikt in seine Politik getragen. Nun befindet sich das Land wirklich in Gefahr, zu einer unversöhnlichen, gespaltenen und zunehmend durch verhärtete Fronten bestimmten Gesellschaft zu werden.  

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/YLmOiWCde